Small World

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Im Kino und auf DVD:

Je mehr die Leistungsfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses abnimmt, desto stärker treten  Langzeiterinnerungen in den Vordergrund  – ein bekanntes Phänomen des Alterns, das im Falle von Alzheimer und anderen Demenzen noch zusätzliche an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig ist dies ein ergiebiges Motiv für eine Erzählung und potentieller Lieferant einer spannenden Story. In seinem Roman „Small World“ hat der Schweizer Autor Martin Suter sich dies für eine raffinierte Kriminalgeschichte zunutze gemacht. Der französische Regisseur Bruno Chiche hat das Buch verfilmt.

Ein unbeabsichtigter Hausbrand, den Konrad (Gérard Depardieu) verursacht, motiviert dessen Rückkehr in den Haushalt, in dem er als Sohn des Dienstmädchens aufgewachsen ist. Auf seine Ankunft im reichen Industriellenhaushalt reagieren die meisten Familienmitglieder abweisend. Nur Simone (Alexandra Maria Lara), die kürzlich in die Familie eingeheiratet hat, begegnet ihm

G. Depardieu und A.M. Lara in Small World Bild: Majestic M. Bragard


freundlich und offen. Die fortschreitende Demenz, die den wunderlichen Alten noch wunderlicher werden lässt, führt auf der Spur der Kindheitserinnerungen schließlich zur Aufdeckung von dunklen Geheimnissen in der Familiengeschichte.


Bemerkenswert ist vor allem der Umgang mit Demenz, die Gérard Depardieu niemals pathologisch oder bemitleidenswert darstellt. Seine körperliche Schwere und Ungeschicklichkeit setzt er in Kontrast zu einer unschuldigen Zutraulichkeit, die ihn wie einen „reinen Tor“ inmitten der korrupt-verlogenen Gesellschaft erscheinen lässt. Mit angewinkelten Armen und stampfenden, kleinen Schritten bleibt er doch stets eine Figur, die respektiert wird und faszinierenderweise in heiklen Situationen poetische Einfälle hat. Dies mag im einen Fall die sprachliche Inspiration sein, mit der er sich dem ständigen Vergessen widersetzt oder im andern Fall der Regenschirm, den er unbedingt im Café aufspannen will (wobei dies weniger seiner Demenz, sondern vielmehr seiner Diskretion geschuldet ist, die er für angebracht hält, um der Jungvermählten den Blick auf den untreuen Ehemann zu ersparen). Der alternde Konrad, der mit seiner Demenz gleichsam den Schlüssel für die Auflösung liefert, nimmt mit der Sympathie, die ihm zuwächst, vielleicht ein wenig Schrecken vom Bild der Demenz, das sonst weitverbreitet ist.


Sogar die katastrophale deutsche Synchronisation vermag Depardieu durch seine Schauspielkunst teilweise vergessen zu machen – insgesamt wirken in dieser Sprachfassung die Dialoge wie aufgesagt und unfreiwillig komisch. Ein ausgedehnter Off-Kommentar, der zum Ende des Films erklären muss, was denn nun wirklich einst geschehen ist, weist zudem darauf hin, dass die Dramaturgie sich verheddert hat und filmische Mittel nicht ausreichend zu erfinden vermochte.


Die Milieustudie, die Bruno Chiche mit dieser Literaturverfilmung vorstellt, wurde von der Kritik mit dem Regiestil von Claude Chabrol verglichen. Von dessen beissender Kritik an der bürgerlichen Ordnung ist „Small World“ jedoch weit entfernt – fast schon tröstlich wirkt das Licht, in das Chiche die Demenz taucht und die Gewissensbisse, die sich selbst die Firmen- und Familienchefin Elvira (Francoise Fabian) macht, wären bei Chabrols Figuren unvorstellbar. Die vielfältigen Familienstreitigkeiten werden oft nur angedeutet und selten vertieft, geschweige denn mit der moralisch-ethischen Komplexität beschrieben, die das große Vorbild auszeichnete. Dadurch wirken die Beziehungen der Einzelnen sperrig und verstellen die Entfaltung der Geschichte genauso wie einen Spannungsaufbau. Die filmästhetischen Einfälle bleiben im konventionellen Muster von Schuss-Gegenschuss und nur wenige Landschaftstotalen, Blicke auf das Anwesen und Kamerafahrten in den Räumen schaffen eine unterschwellige Atmosphäre, in der das Milieu seine vergiftete Doppelbödigkeit erhält.


Mit souveräner schauspielerischer Leichtigkeit gelingt es Depardieu, eine Person zu verkörpern, die mit Demenz lebt und auf diese Weise zu ein wenig mehr Verständnis beizutragen. Das noch immer schwierige Thema Demenz, welches allgemein immer mehr an Brisanz gewinnt, spielt hier zwar eine wichtige Rolle, es tritt jedoch fast hinter dem Plot, mit dem das verdrängte Geheimnis gelüftet wird, zurück.


cev

 

Small World

F/D 2010
99 Min.
Regie: Bruno Chiche
Kamera: Thomas Hardmeier
Mitwirkende / DarstellerInnen: Gerard Depardieu, Alexandra Maria Lara, Nathalie Baye, Niels Arestrup, Pascale Arbillot, Yannick Renier
Produktion: Quad Films (Paris), Blueprint Film GmbH (München)
FSK: ab 6 Jahre
Link: http://www.smallworld-film.de/
Verleih: Majestic Filmverleih (Berlin)
DVD: Twentieth Century Fox Home Entertainment, Ausstattung: Making Of, Interviews, Featurette, Trailer