Es besteht Bedarf, verschiedene Wohnformen (Demenz-WGs) zu erarbeiten; dafür könnte der Leerstand vieler Gebäude in den einzelnen Kommunen genutzt werden.
Münster-Hiltrup: Projektbericht
Vom Logo geht das Signal aus, die Blickrichtung zu ändern. Anhalten, die Perspektive wechseln, hinter die Dinge schauen, Verständnis entwickeln, sich auf die gefühlte Lebenswelt von Demenzkranken einlassen.
Die Gemeindediakonie Hiltrup e. V. konnte im November 2011 ihr Projekt zur sozial-räumlichen Bewusstseinbildung im Süden von Münster im Rahmen des Programms „Menschen mit Demenz in der Kommune“ erfolgreich abschließen. Die Projektbeteiligten danken der Robert Bosch Stiftung für die Unterstützung.
Münster-Hiltrup
In dem münsterschen Stadtteil mit mehr als 25.000 Einwohnern und den Ortsteilen Hiltrup, Amelsbüren und Berg Fidel gibt es teilstationäre und stationäre Einrichtungen, die Menschen mit Demenz betreuen und versorgen. Eine Einrichtung mit Hausgemeinschaften für Demenzkranke befindet sich mitten im Ortskern von Hiltrup. Mit dem „GemeindeCafé“ ist ein niedrigschwelliges Betreuungsangebot für Menschen mit Demenz vorhanden. Es gibt keine regelmäßigen, stadtteilbezogenen Informationsveranstaltungen zum Thema Demenz.
Werbung für einen anderen Blick Bild: GeLt
Vorgeschichte
Anfang des Jahres 2009 begannen die Gemeindediakonie Hiltrup e. V. und ihre Partner mit dem Aufbau einer wöchentlichen Betreuungsgruppe in Amelsbüren. Nachdem ein Kreis von Ehrenamtlichen geschult war, wurden Gäste für das „GemeindeCafé für Menschen mit Demenz“ gesucht. Aus den damit verbundenen Erfahrungen entstand die Idee für das Projekt.
Konzept
Ausgangspunkt war die Erfahrung, dass nicht nur betroffene Menschen eine Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz vermeiden, erkennbare Veränderungen verschweigen und Partner sowie Angehörige die mit Demenz verbundenen Probleme duldend ertragen.
Da viele Menschen dem Thema möglichst aus dem Weg gehen, sollte die Tabuisierung und der sich ergebende Teufelskreis mit einer alternativen Öffentlichkeitskampagne durchbrochen werden.
So entstand unter dem Motto. „Der andere Blick“ ein Konzept für ein „besseres Leben mit Demenz“. In Verbindung mit den Stichworten
· Demenz wahrnehmen und verstehen,
· Menschen mit Demenz begegnen,
· Angehörige unterstützen und begleiten
sollten sich Hiltruperinnen und Hiltruper für Menschen mit Demenz engagieren. Für betroffene und nichtbetroffene Menschen waren gemeinsame Veranstaltungen als Informations- und Aktionsforen vorgesehen. Entsprechend dem Konzept sollten Vereine, Institutionen und interessierte Einzelpersonen an der Umsetzung beteiligt werden.
Realisierung
Im Oktober 2010 begann ein kleiner Steuerungskreis mit der organisatorischen Umsetzung des Projektes. Er nahm Kontakt zu potentiellen Partnern auf und bereitete eine Eröffnungsveranstaltung vor. Die Entwicklung eines Logos und die Gestaltung von Flugblättern und Plakaten wurden auf den Weg gebracht. Am 18. Januar 2011 konnte das Projekt starten.
In Anwesenheit des Bezirksbürgermeisters kamen Vertreter von Vereinen und sozialen Institutionen und engagierte Personen zusammen, um das Projekt vorzustellen, sich über Erfahrungen in der alltäglichen Begegnung mit demenzkranken Menschen auszutauschen und Absprachen für eine zukünftige Kooperation zu treffen.
Bild: GeLt
Insbesondere ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht machte deutlich, wie wichtig es ist, dass sich Betroffene mit einer Demenzerkrankung nicht aus der Öffentlichkeit und dem sozialen und kulturellen Leben zurückziehen. Bereits an diesem Punkt zeigte sich, dass unser Vorhaben mit seiner einladenden und offenen Orientierung schlüssig war.
Im Vorfeld der Projektpräsentation hatte die Presse positiv über die Aktivitäten zu „Der andere Blick“ im Stadtteil berichtet. Zeitgleich begann die Werbung für das erste Informationsforum und die zum „Parkplatz der Erinnerung“ zusammengefassten beiden Aktionsforen.
Nach der Eröffnungsveranstaltung wurden insgesamt drei Informations- und sechs Aktionsforen durchgeführt. Ihr Verlauf wird folgend beschrieben.
08. Februar 2011
Menschen mit Demenz bleiben Nachbarn – Informationen und Bürgergespräch mit Hilke Prahm-Rohlje
Bürgergespräch im Café Marie Bild: GeLt
Für das erste Informationsforum wurde eine Mitarbeiterin der gerontopsychiatrischen Beratung der Alexianer in Münster gewonnen. Die Referentin ging auf den Verlauf von Demenzerkrankungen ein und betonte die Bedeutung einer aufgeschlossenen Nachbarschaft, die Betroffenen hilfreich zur Seite steht. Dazu gehöre auch, dass eine Erkrankung nicht verschwiegen werde. „Sie motivierte die Angehörigen, sich in die Erkrankten hinein zu versetzen und – ungeachtet aller Belastungen – noch offener mit ihnen umzugehen.“ (Münstersche Zeitung vom 10.02.2011)
21. Februar 2011
Wo man singt, da lass dich nieder... Gemeinsames singen von Volksliedern und alten Schlagern
Männergesangverein und Gäste im Ev. Gemeindzentrum Bild: GeLt
Singen ist in Betreuungsgruppen eine übliche und gerne geübte Praxis. Hier wurde mit den Aktiven des Hiltruper Männergesangverein von 1848 gesungen. „Der Chor nahm die Gäste mit zu einer Reise in die Vergangenheit und forderte zum gemeinsamen Singen in großer Runde auf. Stücke wie ‚Es tönen die Lieder’ oder ‚Unterm Lindenbaum’ stimmten alle an.“ (Westfälische Nachrichten vom 22.02.2012)
03. März 2011
Weißt du noch – das blaue Dings? Malen im Kunsthaus Kannen
Die Presse berichtete über den dritten Projekttag mit der Überschrift: „Augenblicke des Glücks“ – Malnachmittag für an Demenz Erkrankte im Kunsthaus Kannen
„Vögel die fliegen? ‚Nein meine fliegen nicht’, sagt eine an Demenz erkrankte ältere Dame mit Blick auf ihr Bild, das sie gerade malt. Ihr Bild sieht schön, beinahe kindlich aus. Heute würde man dazu Wimmelbild sagen, so viele Details gibt es zu entdecken, und es kommen immer mehr dazu. Gemalt hat die Teilnehmerin des Donnerstagcafés seit über 40 Jahren nicht, aber sie hat Spaß, und um sie herum baut sich ein kommunikativer Kreis auf. ... Ganz vertieft hat sich eine Dame in ihr Gartenbild. ‚Ich habe einen Garten zu Hause.’ So hat sie den kleinen Schuppen und die Bank im ockerfarbenen Bild verewigt, eine Bank für die Gäste, die für einen Plausch Platz nehmen können.“ (Westfälische Nachrichten vom 05.03.2011)
Malaktion im Kunsthaus Kannen Bild: N.N.
Am zweiten Aktionsforum nahmen insbesondere Angehörige teil, die hier die Gelegenheit hatten, Erkrankte von einer anderen Seite kennen zulernen. Man hatte Spaß und es baute sich ein „kommunikativer“ Kreis auf.
12. April 2011
Erlebte Geschichten von früher – Besuch im Hiltruper Museum
Mit dieser Veranstaltung begann im April der zweite Durchgang von „Der andere Blick“. Auch sie hatte eine gute Resonanz und zeigt, wie mit einfachen Dingen biografiebezogene Erinnerungsaktivitäten möglich sind. In diesem Fall kommt dem Ort eine besondere Bedeutung zu, da es schöne Anknüpfungspunkte für Gespräche gab.
Heimatkunde im Hiltruper Museum Bild: GeLt
16. Mai 2011
Wertschätzender Umgang bei Demenz – Von der Realität zum Gefühl
Der Vortrag von Andrea Brinker, Soest, über die Methode der Validation zog insbesondere Fachkräfte und ehrenamtlich Betreuende an. Aber auch pflegende Angehörige interessierten sich für das Thema. In einem überschaubaren Kreis veranschaulichte die autorisierte Trainerin für integrative Validation, was es bedeutet Demenzkranke anzunehmen. Durch praktische, lebensnahe Beispiele konnte sie aufzeigen, was es heißt, sich auf ihre Realität einzulassen und sie in ihren Gefühlen zu begleiten.
Validation - aufmerksam Zuhörende Bild: GeLt
26. Mai 2011
Heidschnucken auf Haus Heidhorn – Ausflug in die Davert
Es braucht nicht viel, um Natur pur zu erleben und Gemeinschaft mit Demenzkranken zu haben. Zum Besuch der Naturschutzstation Münsterland gehörte zunächst ein Spaziergang im westfälischen Bauerngarten. Nachdem man den in der Davert lebenden Schafen auf den Pelz gerückt war, wurde Wolle wie in alten Tagen gekämmt und gereinigt. Beim anschließenden gemeinsamen Filzen entstanden kleine Geschenke. Das gemeinsame Tun ist anregend und bietet viel Stoff für Gespräche. Auch hier sprechen die Bilder für sich.
Mehr als Natur pur in der Naturschutzstation Bild: GeLt
27. Juni 2011
Wenn alles zu entgleiten scheint – Demenz im Spiegel der Literatur
Die Lesung mit dem VorLeseClub Hiltrup war eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte kulturelle Veranstaltung. Dabei sind zunächst das Vorleseteam um Günther Rohkämper-Hegel im Blick, dessen Schwerpunkt auf literarischen Texten liegt. Die Texte über Demenz waren für den Kreis zunächst gewöhnungsbedürftig. Mit der Zusage zur Lesung musste man sich dem Thema unausweichlich stellen. Der Vorleseclub tat es mit großem Engagement und Sachkenntnis bei der Auswahl und dem Vortrag der Texte. Untermalt wurde die Lesung durch die jungen Musiker von Live Music now, die der Veranstaltung mit ihrer Begleitung einen repräsentativen Rahmen gaben. Die Anwesenden dankten allen Mitwirkenden mit großem Applaus.
Musik und Lesung im Café Marie Bild: GeLt
24. Juli 2011
Darf ich bitten ...? das mobile Tanzcafé
Diese Tanzveranstaltung ging deutlich über die Ziele hinaus, die mit unserem Projekt verfolgt wurden. Die Livemusik von drei jungen Musikerinnen brachte die überwiegend weiblichen Gäste auf die Tanzfläche. Hier war nicht mehr Demenz sondern Tanzen angesagt. Die Resonanz war: Warum gab es das nicht schon früher und wann gibt es das wieder. Die Kooperationsveranstaltung mit dem TUS Hiltrup und der Bethusy-Huc-Stiftung war ein voller Erfolg. Eine Fortsetzung soll folgen.
Tanzvergnügen in der Gymnastikhalle Bild: GeLt
18. August 2011
Raus auf’s Land – Landpartie nach Albersloh
Vielfältige Eindrücke über Mensch und Tier waren mit dem letzten Aktionsforum verbunden. Erinnerungen lebten auf und die konkrete Begegnung sorgte für vielfältigen Gesprächsstoff bei den jungen und alten Teilnehmenden. Die Bäuerin und der Bauer erzählten von ihrem Alltag und bei einer „Betriebsführung“ konnten sich die Anwesenden über die Realitäten auf dem Land gestern und heute austauschen. Bei Kaffee und Kuchen lernten sich Menschen kennen und erfuhren Normalität in der Begegnung mit Demenzkranken. Eindrücke im Stall und Garten, die anderen Gerüche, die hautnahe Begegnung mit den Tieren ließen Gemeinschaft auf Zeit entstehen.
Hof Röckmann - Begegnungen im Stall Bild: GeLt
Perspektive
Mit der Landpartie endete das letzte Aktionsforum. An den insgesamt zehn Veranstaltungen nahmen gut 300 Menschen teil. Damit bestätigte sich, dass wir mit unserem Konzept, verschiedene Zielgruppen gleichzeitig und zeitlich kompakt anzusprechen, auf dem richtigen Weg waren.
Im November 2011 trafen sich die Initiatoren mit den Projektbeteiligten, um eine Auswertung vorzunehmen und Perspektiven für das Jahr 2012 zu entwickeln. Wir können weiter mit der Unterstützung des Bezirksbürgermeisters rechnen und es bestand bei den beteiligten Partnern der Wunsch, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Dabei soll das Motto „Der andere Blick“ – Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz in Hiltrup“ beibehalten werden, denn es hat als Marke inzwischen einen guten Erkennungswert.
Das Konzept und die bei der Umsetzung gewonnenen Erfahrungen sind eine tragfähige Basis für die Weiterarbeit. Im Gespräch sind wir mit dem Gesangverein, dem Sportverein sowie dem VorleseClub. Vorstellbar sind z. B. Märchen für Menschen mit und ohne Demenz oder Geschichten aus dem alten Hiltrup. Eine weitere Perspektive ergibt sich aus der Zusammenarbeit mit dem Hiltruper Museum, wo ein Projekt zur Biografiearbeit realisierbar erscheint.
Von den Informations- und Aktionsforen „Der andere Blick“ sind Dank der Förderung durch die Robert Bosch Stiftung wertvolle Impulse ausgegangen. Durch die Idee, Informationen zum Thema Demenz mit biografiebezogenen Angeboten aus der Betreuungsarbeit für Menschen mit Demenz zu verknüpfen und sie für betroffene und nichtbetroffene Menschen zugänglich zu machen, werden auch Menschen erreicht, die einer Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz zunächst distanziert gegenüber stehen.
Da wir bei der Projektumsetzung nur gute Erfahrungen gemacht haben und es keine unüberwindbaren Hindernisse gab, würden wir uns freuen, wenn von diesem Bericht Impulse für vergleichbare Aktivitäten im Land ausgingen.
Entsprechend unserem Maßstab für den Projekterfolg konnten unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen über die Informationsveranstaltungen zum Thema Demenz erreicht und für eine Beteiligung an den Aktionsforen gewonnen werden. Außerdem stabilisierte sich die Nutzung unseres niedrigschwelligen Betreuungsangebotes für Menschen mit Demenz.
Inzwischen arbeiten wir an neuen Projekten. Dabei ist die ehrenamtliche Betreuung von Menschen mit Demenz in der eigenen Wohnung im Blick. In Verbindung mit dem Aufbau eines „ehrenamtlichen Besuchsdienstes“ für ältere Menschen soll es auch biografische Angebote für Menschen mit Demenz geben.
Wenn Sie jetzt noch Fragen zu „Der andere Blick“ haben, sprechen Sie uns an. Die Projektverantwortlichen sind gerne zu Auskünften und zur Hilfestellung bereit (Kontaktdaten: siehe Kontakt auf dieser Seite).
Nach dem Abschlussbericht geht es weiter!
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