Rückschlag zum Ausklang des „Jahres der Pflege“

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Scharfe Kritik an Pflegereform vom Chef der Expertenkommission

Nach dem Minimalkompromiß der schwarz-gelben Koalition hat Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) einen weiteren Rückschlag erlitten. Der bisherige Chef des zuständigen Expertenbeirats, Jürgen Gohde, zog sich Mitte Dezember 2011 mit einer scharfen Kritik an der Regierung zurück und erklärte, für die Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zugunsten von Demenzkranken nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Er habe den Eindruck gewonnen, dass es „der Koalition für dieses Ziel an der nötigen Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit fehlt“. Deshalb wolle er Bahrs Beratergremium künftig weder leiten noch ihm angehören.

Der Minister sah sich derweil mit Rücktrittsforderungen konfrontiert.  Er bedauerte den Rückzug des früheren Diakonie-Präsidenten und derzeitigen Chefs des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, betonte aber: „Wir halten an dem Ziel der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs fest.“ An Stelle Gohdes würden sich der Patientenbeauftragte der Regierung, Wolfgang Zöller (CSU), und Klaus-Dieter Voß, Ex-Vorstandsmitglied des Krankenkassenverbands, ab Januar um das Projekt kümmern. „Wir wollen einen neuen Begriff definieren, der wegkommt von der reinen Verrichtung, also weg von der Minutenpflege“, versicherte Bahr.

Demenz anerkennen als Pflegebedürftigkeit

"Ich konnte nicht den Eindruck gewinnen, dass das Ziel, eine Verbesserung für Menschen mit Demenz zu erreichen, von der Regierung getragen wird. Ich habe auch keinen politischen Willen für die Finanzierung gesehen", begründete Gohde seinen Entschluss. Er schätze die Möglichkeiten eines erfolgreichen Abschlusses als gering ein. Der Regierungsbeirat war schon für Bahrs Vorvorgängerin Ulla Schmidt (SPD) aktiv und legte 2009 Vorschläge vor. Damit die immer zahlreicheren Altersverwirrten (Demenzkranken) bei Pflegeleistungen nicht leer ausgehen, sollen die heute drei Pflegestufen durch fünf Grade der Bedürftigkeit ersetzt werden. Das Kriterium ist die verbliebene Selbstständigkeit. Seither hatten Politiker und Experten immer wieder eine Umsetzung angemahnt.

Scheitert die Reform? Rücktrittsforderungen

Der Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, sagte der Nachrichtenagentur dpa: „Das ist der Offenbarungseid von Bahr.“ Die Pflegereform sei ein zentrales Projekt der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode gewesen. „Wenn ein Minister es so vor die Wand fährt, muss er die Konsequenzen ziehen und zurücktreten.“...

Für die Opposition ist Gohdes Demission der endgültige Beleg für Bahrs Scheitern. Die „großspurig angekündigte Pflegereform“ verkomme „vollends zur Luftnummer“, hieß es bei der Linkspartei. Die Regierenden bewiesen „einmal mehr, dass sie die Dringlichkeit des Problems nicht erkannt haben“, kommentierten die Grünen.

Und die SPD-Gesundheitsexpertin Carola Reimann notiert: „Jetzt ist das Chaos der FDP offensichtlich auch im Gesundheitsministerium angekommen. Das ist der traurige Höhepunkt eines gescheiterten ´Jahres der Pflege´.“ Bahr-Vorgänger Philipp Rösler hatte 2011 zum Jahr der Pflege in der Koalition ausgerufen.

Wie die Oppositionsparteien sieht die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung die Pflegereform als gescheitert an. Der Geschäftsführende Vorstand Eugen Brysch forderte den Bundesgesundheitsminister auf, daraus die Konsequenzen zu ziehen und seinen Rücktritt einzureichen. "So viele pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen haben gehofft und sind jetzt tief enttäuscht. Mit einer Milliarde Euro mehr ist ein zukunftsfähiges Konzept der Pflege nicht zu realisieren. Das ist der Offenbarungseid der Bundesregierung", so Brysch in einer Mitteilung.